Die Straßen in Flammen, und sogar die Köche wandern aus: Frankreichs Stern sinkt, weil die einstige Weltmacht an ihren heroischen Illusionen festhält. Ein Pamphlet von Benjamin Korn in DIE ZEIT 21.12.2005 Nr.52
Es war ein Nein wie ein Gongschlag, als am Abend des 29. Mai 2005 die Stimmen in Frankreich ausgezählt wurden. Die Franzosen hatten der europäischen Konstitution den Todesstoß versetzt. Die Leitartikler der großen Zeitungen des Kontinents waren entsetzt und suchten verzweifelt nach Gründen, am ratlosesten aber
waren die französischen Kommentatoren selbst. Sie hatten doch stets für ein klares Ja votiert, die Altlinken von Libération, die Halblinken von Le Monde, die Rechten des Figaro. Alle in der Nationalversammlung vertretenen Formationen, sogar die Grünen, hatten zum Ja aufgerufen.
Auch das Fernsehen war unzweideutig auf der Seite des Ja, von den Philosophen, den Schauspielern und berühmten Sportlern ganz zu schweigen. Selbst Zinédine Zidane, der unwiderlegbare Beweis dafür, dass es einen Gott gibt und dass er in Frankreich Fußball spielt, rief zu einem Ja für Europa auf. Alles umsonst. Frankreich stimmte mit Nein, und doch hatte nur eine bizarre Koalition von Splittergruppen, ein Konglomerat von Kommunisten und Faschisten, von Jägern und Fischern, von »Souveränisten« und Altgaullisten, die um Frankreichs Weltgeltung zitterten, fürs Nein geworben.
Was bedeuteten alle diese kleinen Neins, die sich zu einem riesengroßen Nein auftürmten? Es wurde von den Kommentatoren wieder in viele kleine Neins zerlegt, die, addiert, das große Nein erklären sollten, die aber weniger mit der europäischen Konstitution zu tun hatten als mit der französischen Innenpolitik: ein großes
Nein zur Arbeitslosigkeit, die seit 15 Jahren in Frankreich wütet. Ein Nein gegen den Absturz der Mittelklassen und den Zerfall der Gesellschaft in Steinreiche und Bettelarme. Ein Nein den korrupten politischen Eliten, deren Machenschaften in unzähligen Betrugs- und Bestechungsprozessen aufgedeckt wurden, ein Nein dem Präsidenten Chirac, der es allein seiner Immunität verdankt, dass er nicht wegen
betrügerischer Zuteilung von Milliardenmärkten vor die Richter geschleift wird. Natürlich auch ein Nein gegen die Brüsseler Bürokratie, ein Nein zur Vernichtung des authentischen Camemberts und gegen den Niedergang des französischen Weins; ein Nein gegen den grenzenlosen Appetit der chinesischen Textilindustrie und die drohende Verspeisung von Danone durch Pepsi Cola. Ein Nein zum stagnierenden
Realeinkommen und zu den rasant steigenden Preisen.
Was war geschehen? Ein Nein zur europäischen Konstitution kann es nicht gewesen sein, denn kaum einer hatte sie gelesen und noch weniger hatten sie verstanden. Es schien, den Statistiken zufolge, einige Anhaltspunkte zu geben: Die Handarbeiter hatten mehr mit Nein gestimmt als die Kopfarbeiter, die Bewohner der Provinz mehr als die Bewohner von Paris, die Armen mehr als die Reichen, die Jungen mehr als die Alten. Aber das erklärte nicht, wieso es gerade in den homogensten Gruppen zu entsetzlichen Auseinandersetzungen gekommen war: Ehen waren an einem Ja oder Nein zerbrochen, Freundschaften auseinander gekracht.
Frankreich, das sich ohnehin seit Jahren in einer permanentenKatastrophenstimmung, hierzulande sinistrose genannt, befindet, war am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Den Franzosen lag das Nein auf der Zunge, ein Nein zu ihrer Regierung, die wie paralysiert auf ihr Volk starrte (das nicht minder bedrohlich
zurückstarrte, weil es keine Reformen will), ein Nein zu einem nebulösen Europa, ein Nein zum Schreckgespenst Amerika, ein Nein zum Aufstieg Chinas, ein Nein zur Welt, ein fast metaphysisches Nein. Die Angst vor der Zukunft schwang die Peitsche in Frankreich. Und diese Angst gebar in diesem einst so generösen Land, das seit 200 Jahren alle politisch und rassisch verfolgten Menschen Europas mit offenen Armen aufgenommen hatte, die Monster Feindseligkeit, Engherzigkeit, Fremdenhass. Die Wahlen zur EU-Verfassung wurden zu einem nationalen Psychodrama.
Die miesesten Gefühle brachen sich Bahn, und der »polnische Klempner« wurde zum Symbol einer beispiellosen xenophoben und nationalistischen Hetze. Er gefährde einheimische Arbeitsplätze, doch kein Politiker hatte die Kraft, mit einer überzeugenden Rede auf die jüngst errungene Freiheit der Völker Europas, auf die alte Freundschaft mit Polen, auf die kosmopolitische Tradition Frankreichs und seine legendäre Großherzigkeit hinzuweisen, um endlich hinzuzufügen, dass niemand willkommener sei als der polnische Klempner in einem Land, in dem es an Tausenden von Handwerkern fehlt, an Malern, Tischlern und Maurern. Der Sieg des Nein hat Frankreich nicht mächtiger gemacht, sondern geschwächt. Es kam wie ein Bumerang zurück.
Chirac wurde zur Schießbudenfigur aller europäischen Karikaturisten, die Nachbarstaaten, die mit Ja gestimmt hatten, fühlten sich verraten, und Frankreich verlor den Kampf um die Olympischen Spiele ausgerechnet gegen die Engländer mit ihrem so andersartigen »liberalen System« (in Frankreich ein Schimpfwort für entfesselten Kapitalismus), das vor Vollbeschäftigung und Energie platzte. Auf das Nein Frankreichs zu Europa folgte ein Nein der Welt zu Frankreich.
Was war die Folge des Nein? Nichts. Das Nein änderte nichts am desolaten Zustand der Nation, an den Fabrikschließungen, der Abwanderung der Betriebe, dem drohenden Zusammenbruch der Alters-, der Arbeitslosen- und der Krankenversicherung. Aber das Nein hatte gesiegt. Und der neue Premierminister
Dominique de Villepin zog daraus die einzig mögliche Konsequenz: Er sagte dem französischen Volk, dass er am »französischen Modell« nichts ändern werde. Dieses schlichte Programm ist in einer Republik, in der jeder Versuch einer echten Reform mit einem Massenstreik beantwortet wird, ein guter Ausgangspunkt für eine Karriere.
Villepin tröstete sein Volk nicht mit Taten, sondern mit Worten. Er streichelte das siegreiche Nein, bis es zu schnurren begann. Er werde, gegen die Attacken der ausländischen Konzerne, den »ökonomischen Patriotismus« in Frankreich einführen. Und drittens schwadronierte der neue Premier, der jetzt schon als künftiger Präsident gehandelt wird, von der »historischen Mission« und der »Sonderstellung Frankreichs« sowie Mitte September vor der UN von der »gaullistischen und weltumspannenden Botschaft Frankreichs«, was in weiten Kreisen stillschweigendes Wohlbehagen und nationalistische Zufriedenheit erzeugt.
War es hohle Rhetorik? War es Größenwahn? Die maßlose Übertreibung lässt uns lächeln, aber sie hatte den Zweck, dem verletzten Selbstwertgefühl der Franzosen zu schmeicheln. Nur tut de Villepin es mit einem untauglichen Mittel: mit
Illusionen wie sein Vorbild de Gaulle, als er vor 60 Jahren den Franzosen in einer
berühmten Rede, die jedem Kind mit der Muttermilch verabreicht wird, eine von patriotischer Verblendung eingegebene Version der Befreiung Frankreichs auftischte. Nicht die Alliierten, sondern die französische Armee hätte Frankreich und, mit Hilfe der Pariser Bevölkerung, Paris befreit. De Gaulle wollte mit dieser manifesten Lüge der angeschlagenen Moral der Franzosen auf die Beine helfen. Er hatte Erfolg damit und ist insofern für die systematische Verleugnung der Wirklichkeit in der Politik verantwortlich. Frankreich bezahlte dafür einen hohen Preis.
Die französische Politik hat seit dem Zweiten Weltkrieg, als das Kolonialreich zusammenbrach, ein großes Problem mit der Wahrnehmung der Realität, genau genommen seit eben jenem unvergesslichen 25. August 1944, als de Gaulle, vier Tage vor den Alliierten, in Paris einmarschierte und den Franzosen weismachte, sie, die alte Weltmacht, hätten den Krieg zuletzt noch heroisch gewonnen. An diesem Tag versäumten sie es, der Wahrheit ins Auge zu sehen, die darin bestand, dass sie den Krieg niederschmetternd verloren hatten, dass sie keine Weltmacht mehr waren und als solche von den Amerikanern, denen sie überdies noch ihre Befreiung verdanken und die sie seither mit einer pathologischen Hassliebe verfolgen, die immer mehr in Hass übergeht, abgelöst wurden. Aber je mehr die Geschichte voranschreitet, je mehr der Einfluss Frankreichs in der Welt zusammenschrumpft, desto stärker hält es an der Illusion seiner Besonderheit fest.
Was tut Frankreich nicht alles, um die Illusion seiner Sonderstellung zu verteidigen? Es schickt noch immer Truppen nach Afrika, es hält sich ein paar Kolonien, Krümel aus dem alten Kolonialreich, die es verschämt »das überseeische Frankreich« nennt, es leistet sich eine Organisation der »frankophonen Länder«, die aus sage und schreibe 57 Ländern besteht, unter denen sich so französisch sprechende Nationen wie Bulgarien, Slowenien, Ägypten, Vietnam und Albanien befinden, es hält seine Radiostationen an, mehr französische als amerikanische Hits zu senden und seine Administrationen, einen erbitterten Kampf gegen alle Anglizismen zu führen, kurz: Die Tragödie, seine Kolonien zu verlieren, die Frankreich mit unbeschreiblichen Massakern in Algerien, Vietnam und Madagaskar zu verhindern suchte, hat sich langsam, aber unaufhaltsam in eine Operette verwandelt.
Das idealisierte Selbstporträt des Landes, das die Politiker in ihren Reden erzeugen, reibt sich an der grauen Wirklichkeit, und diese Differenz erzeugt eine weit verbreitete postkoloniale Depression. Diese Depression war der mächtige unterirdische Magnet, der das massenhafte Nein an sich zog. Frankreich sieht sich in seinen Albträumen als gefesselten Gulliver, von 24 Zwergen eingeschnürt. Es schüttelt panisch den Kopf, um nicht zu erwachen, denn sonst sähe es, dass es selbst ein Zwerg geworden ist.
Die Verleugnung der Kriegsniederlage war eine psychische Katastrophe für Frankreich, und die Folgen dieser Verleugnung sind noch heute spürbar und schlagen sich in der sinistrose nieder, jener allgemeinen Katastrophenstimmung, die auf Frankreich lastet und mit der Aufzählung aller sozialen Probleme, die auch von anderen europäischen Ländern geteilt werden, nicht ausreichend erklärt werden kann. Die sinistrose wird nicht durch das Gefühl einer Krise, sondern einer absoluten Ausweglosigkeit erzeugt, und dieses wiederum dadurch, dass die Verleugnung der Geschichte in der Bevölkerung eine Art Unempfindlichkeit gegen alle schmerzlichen Wahrheiten erzeugt hat angefangen bei der Negierung der Niederlage, dem Herunterspielen der landesweiten Kollaboration, der Glorifizierung der Resistance, dem Verzicht auf die »Entnazifizierung« des Vichy-Regimes (dessen Opportunisten und Schreibtischmörder, wie in Österreich, ins neue Frankreich übernommen wurden) bis hin zum Verschweigen der Verbrechen in den Kolonien.
Die unerträgliche politische Rhetorik, die seit Jahrzehnten auf Frankreich niederprasselt, ist der pathetische Ausdruck dieser Unempfindlichkeit, ja geradezu das schmerzstillende Mittel gegen alle historischen Wahrheiten. Das führte zu einer Verblendung und Verrohung der Öffentlichkeit einer Öffentlichkeit, die die
jüngsten Interventionen ihrer Armee in Uganda, trotz der finsteren Rolle, die sie bei der Vorbereitung des Völkermords spielte, oder an der Elfenbeinküste, wo die Soldaten blindlings in eine unbewaffnete Volksmenge schossen, gleichgültig hinnimmt. Die psychische Anästhesie ist, anders als in den fünfziger und
sechziger Jahren, wo es noch eine linke Opposition und radikale Intellektuelle gab, die ihre Nation wachrüttelten, ein allgemeines Phänomen geworden. Es gilt für alle Parteien von links nach rechts, alle Gewerkschaften, die so genannte Intelligenz eingeschlossen.
Diese Unempfindlichkeit wiederum hat, im Verein mit dem drohenden Zusammenbruch des sozialen Systems, zu einer Brutalisierung der Gesellschaft geführt, wie wir sie weder in London noch in Barcelona noch in Berlin sehen können. Die Menschen haben die einfachsten Reflexe, ihre »Antennen« verloren. Es ist
unmöglich geworden, durch Paris zu gehen, ohne aggressiv angerempelt zu werden. Das Wort pardon ist aus dem Lexikon gestrichen. Niemand lacht auf den Straßen. Stadtviertel, in denen es früher von Menschen wimmelte, sind abends wie leer gefegt. Die jungen Araber reden nicht mehr die Landessprache, sondern
demonstrativ arabisch. In den Metros sehen die bleichen, angespannten Fahrgäste gezielt aneinander vorbei. Keiner macht dem andern Platz. Zwischen dem Staat und den Menschen gibt es keine Sicherung, keine funktionierende bürgerliche Gesellschaft mehr. Das soziale Netz hängt in Fetzen.
Und wie alte Menschen, die von der Zukunft nichts Gutes zu erwarten haben und nostalgisch auf die großen Stunden ihrer Jugend zurückblicken, blättert Frankreich im Bilderbuch seiner Vergangenheit und betrachtet verträumt die historischen Kostüme in seinem Kleiderschrank. Frankreich lebt in Illusionen. Es erinnert sich, da die Alterssenilität seine Erinnerung trübt, nicht mehr so klar an die jüngste Vergangenheit, aber sehr gut an die schönen alten Zeiten, an seine 50 Könige, an Karl den Großen, den Frommen und den Grausamen, an die Heilige Johanna, die brennende Märtyrerin, an Heinrich den Vierten, der Frankreich einigte, an Ludwig den Vierzehnten, der es überstrahlte, an Ludwig den Sechzehnten, der seinen Kopf verlor, an Danton und Robespierre, die ihn köpften, und den vergötterten Napoleon, der Europa in Menschenblut badete Blut ist ein besonderer Saft, in der alchimistischen Erinnerung der Völker verwandelt es sich zu Gold und
natürlich an den Ersten Weltkrieg, den der Maréchal Pétain für Frankreich gewann und den Zweiten, den er ... wie war das noch? Tausend Jahre Glorie!
Und vergessen wir nicht unsere Geistesgrößen, unsere Denker und Philosophen, die berühmten Aufklärer Voltaire und Diderot, die es für alle gebildeten Menschen Europas zur Pflicht machten, sie im Original zu studieren, und unsere Romanciers und Lyriker, und die Faszination, die unser kulturexportierendes Land auf
Europa ausübte. In Dostojewskis Romanen streiten sich die Frankophilen mit den Russophilen, der Schwede Strindberg nennt sein berühmtes Stück Fräulein Julie, französisch auszusprechen. Was waren das für Zeiten, als alle Welt französisch sprach und wir keine Fremdsprache lernen mussten. Was wir auch heute nur ungern
tun.
Jeder Ausländer, der etwas länger in Frankreich lebt, bemerkt eine weit verbreitete Tendenz, die Geschichte zu verleugnen, zu verdrehen, zu beschönigen, die Tendenz aller alten Menschen und alten Länder, ihre Vergangenheit zu glorifizieren und
nein zur Gegenwart zu sagen. Nein, nein und nochmals nein. Nein aus aktuellen, nein aus weit zurückliegenden Gründen. Die Neins addieren sich, überlappen sich, durchdringen sich wie geologische Schichten. Nein wegen der Arbeitslosigkeit, nein wegen unserer kulturellen Einmaligkeit, nein wegen der gelben Invasion, nein wegen
unserer großen Vergangenheit, nein, um unsern Geldbeutel zu schützen, nein, weil wir die anderen nicht mögen, nein, weil wir uns selbst nicht mehr mögen. Ein Nein, weil es überall weh tut und man weiß nicht wo. Ein Nein wie ein Urschrei.
Woher nimmt dieses Nein seine gewaltige Energie? Es ist nicht einfach, ja zu sagen in einer Gesellschaft, die zu ihren Bürgern immer nur nein sagt. Alle Wege, die nach oben führen, sind blockiert und zugemauert. Frankreich hat nicht nur ein Problem mit der fast pathologischen Niedergeschlagenheit der Menschen, es ist in
seinen Institutionen verknöchert und verstopft. Die Institutionen sind Hunderte von Jahren alt und wiegen Tausende von Tonnen schwer. Die Politiker, die die Gesellschaft reformieren müssten, haben ihr Geschäft in reformbedürftigen Schulen und Universitäten erlernt, antidemokratischen Anstalten, die, nach dem Willen von Napoleon, der sie in die Welt rief, eine intellektuelle Elite für Frankreich bilden sollten, aber statt dessen eine kleine Geldund Geburtsoligarchie hervorgebracht haben, die sich seit Generationen wie ein Spinnennetz im Leben Frankreichs etablierte und es jedem normalen Menschen aus der französischen Provinz oder einem gewöhnlichen Pariser Stadtteil verbietet, in die höchsten Ämter aufzusteigen. Der Taxifahrer Joschka Fischer hätte hier keine Chance gehabt, Außenminister, ja nur Staatssekretär zu werden.
Stattdessen tummeln sich die Söhne und Töchter der einflussreichen Familien, die sich schon in der Ecole Nationale de l'Administration (ENA) duzten und in ihrem Leben noch kein Etagenklo gesehen haben, in der Nationalversammlung, im Senat, in den Aufsichtsräten der großen Betriebe und Banken, in den Präfekturen,
den Gas- und Elektrizitätswerken, in den höchsten Richterämtern und natürlich in den Ministerien und den ersten Posten der Republik. Frankreichs Direktoren und Minister werden von Institutionen ausgebildet, die dem Volke unzugänglich sind. Sie sind Spezialisten für nichts und können alles verwalten, können perfide Briefe im elegantesten Französisch formulieren, einem staatlichen Kunstmuseum, der Post oder der Eisenbahn, France Telecom oder einer Waffenfabrik vorstehen. Das Verteidigungsministerium ist vergeben? Macht nichts, ich werde Erziehungsminister, Landwirtschaftsminister, Kulturminister.
Und das ist auch schon das Ende der Kultur! Denn der neue Kulturminister, der eben vielleicht noch Bürgermeister von Lourdes oder der billig abgespeiste Konkurrent für ein umworbeneres Ministerium war und selbstverständlich nicht die Spur einer Ahnung von Architektur, Musik oder Malerei hat, ist keineswegs Minister der Kultur, die ja ein überparteiliches Erbe der Menschheit ist, er ist vor allem Minister einer Partei. Als solcher ist es für ihn abwegig, die frei werdenden Posten an die Berufenen, die er ohnehin nicht kennt, zu vergeben, er muss erst die Parteifreunde, Trittbrettfahrer und Stiefelputzer beerben, die seiner Karriere nützlich waren oder werden könnten. Vielleicht kann er auch, wie geschehen, eine schöne Schauspielerin in seine Dienstwohnung einladen und ihr sein neues Schlafzimmer zeigen. Ansonsten sind die Posten sein Kapital. Er besetzt die Museen, den Denkmalschutz, die Kulturzentren mit Weggefährten oder Chargen, die gleichfalls nichts von Kunst verstehen (und die armen Künstler verachten, die die Vorzimmerstühle
durchsitzen und unaufhörlich um Subventionen betteln), aber gern auf mondäne Empfänge gehen, schwarzen Kaviar verschlingen und sich kostenlos zu den Premieren einladen.
Eben darum gibt es in Frankreich seit 20 Jahren kein berühmtes Orchester, keine international anerkannte Oper, kein interessantes Theater mehr, zu dem noch irgendein neugieriger ausländischer Kritiker anreist. Aber das System erhält sich von selbst, es braucht keine Zustimmung. Und die Zeitungen? Je nachdem, da das
Ministerium ja links oder rechts ist, linke oder rechte Hofberichterstattung! Besser als das Kulturministerium, das ja bekanntlich eine Erfindung von Goebbels ist, zu reformieren, wäre, es zusammen mit den genannten Eliteschulen in die Luft zu jagen; dann könnte man hierzulande viel besser atmen und würde, bei null
anfangend, sehen, wer wirklich etwas kann.
Es gibt drei Arten, in Frankreich Karriere zu machen: in die richtige Familie hineingeboren zu werden, reich zu sein, der herrschenden Partei anzugehören. Sonst gibt es noch eine vierte Art: die Prostitution. Nein zur Gleichheit der Chancen! Nein zur Nominierung des Fähigsten! Nein zum fairen Kampf um Posten und Arbeitsplätze! Nein, nein und nochmals nein! Nun gut, könnte man sagen, wenn es schon in den staatlichen Institutionen für einen einfachen Menschen ohne Beziehungen kein Durchkommen gibt, warum es dann nicht einfach in der freien kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft versuchen? Weil sie nicht frei ist! Es ist unmöglich, dieses Kapitel über die allen Enthusiasmus erstickenden Institutionen Frankreichs abzuschließen, ohne über ein Phänomen zu sprechen, das zwar so alt ist wie die Menschheit selbst, das aber hierzulande seit einigen Jahren exzessiv beunruhigende Formen angenommen hat: der Nepotismus. Es ist heute so weit gekommen, dass man nicht nur die gut bezahlten Posten in der Industrie unter Familienmitgliedern
weiterreicht, sondern dass eine Putzfrau auf dem Lande die Fürsprache eines Cousins braucht, um im Rathaus angestellt zu werden. Es hat gewiss mit dem Mangel an Arbeitsplätzen zu tun, der dazu führt, dass man die Mitglieder seiner Familie nicht der freien Konkurrenz des Marktes aussetzen möchte, aber es ist leider exakt
von einer schleichenden Refeudalisierung der Gesellschaft zu sprechen. Wir sehen im öffentlichen Leben ständig Söhne, Schwestern, Nichten und Tanten von berühmten Leuten, deren einziges Verdienst darin besteht, einen berühmten Nachnamen und mit Hilfe eines »Negers« ein zum Bestseller bestimmtes Buch verfasst zu haben, in dem sie beschreiben, wie man sie schlug, vergewaltigte, adoptierte. Auf den
Filmplakaten stehen bekannte Namen, zu denen unbekannte Vornamen gehören, bei denen man sich fragt: Ist es die Cousine, der Neffe, der Urenkel?
Das gesamte öffentliche System ist vom Nepotismus verpestet und verriegelt. Wer huscht über den Laufsteg? Die Tochter des neuen Premierministers. Wer war an der Spitze der Hitliste? Die Prinzessin von Monaco. Die Wege zum Erfolg sind usurpiert, weil das Geburtsprivileg das Können und die echte Berufung übertrumpft
hat. Vor zwei Jahren druckte Libération eine Seite mit 20 Fotos »berühmter Kinder« von Schauspielern ab. Wir lesen: Delon, Depardieu, Brasseur, Mastroianni, nicht die Originale, sondern lauter Söhne und Töchter, die sich nun selbst Schauspieler nennen und denen, die es verdient hätten, die Arbeitsplätze stehlen. Das ist nur die oberste Spitze eines Eisberges, aber auf diesen stürzt sich die ganze Klatschindustrie.
Nur: Wenn nicht mehr das Können entscheidet, sondern der Zufall der Geburt, was geschieht dann mit den wahren Künstlern, die in ihren Wohnungen vertrocknen und panisch auf das schweigende Telefon schauen? Man sehe sich das elende Resultat in Film und Fernsehen an! Der Nachrichtensprecher erhält einen Literaturpreis, das Mannequin fängt an zu singen, der Conférencier wird Schauspieler des Jahres. Wohin man auch schaut, in der Politik, der Industrie, der Kultur: mafiöse Verhältnisse, Ungerechtigkeit, Protektion.
Und wie reagiert die Bevölkerung, wie reagiert die Jugend, die zu 25 Prozent arbeitslos ist und ohne Hoffnung auf Arbeit lebt, auf diesen Zustand der allgemeinen Versteinerung und Verkalkung? Sie flüchtet. Die Zahl der Jugendlichen, die Frankreich verlassen, ist schwindelerregend. Es gibt keine offiziellen Statistiken, aber sie fliehen zu Hunderttausenden nach Kanada, in die USA, nach England. Die
hoch qualifizierten Naturwissenschaftler, die Chemiker und Physiker, die Cartoon-Zeichner, ja sogar die Köche wandern in die Vereinigten Staaten aus. In Quebec wird praktisch jede Bewerbung um eine Arbeit mit ja beantwortet. In London leben allein 200 000 Franzosen, in ganz England 300 000, das ist die Bevölkerung einer Großstadt! Hier finden sie einen Job, wäre er auch prekär, hier fragt man sie nicht nach ihren Vorfahren, nicht einmal nach ihrem Lebenslauf, hier können sie noch zeigen, was in ihnen steckt, statt in ihrem Heimatland zu versauern und sich verachten zu lassen.
Und die Zurückbleibenden? Sie träumen von Beamtentum und Staatsdienst. Die Kinder der Bauern verlassen die Höfe, die Tochter geht zur Polizei, der Sohn wird Lehrer. Beider Traum: eine kurvenlose Straße von der Anstellung bis zur Pensionierung. Endstation Sicherheit. Man wird Buchhalter in einer öffentlichen Verwaltung oder Berufssoldat, nach 17 Jahren Dienst winkt die Frührente. Grundschüler, nach ihrer
Lebensperspektive gefragt, antworten, sie würden am liebsten von Sozialhilfe leben. Die Gesellschaft schottet sich ab. Der Regionalismus blüht. Man hört in den Radios keltische Musik und südfranzösische Dialekte. Auf den Dörfern werden Ritterspiele Mode: Die Teilnehmer grunzen sich mit barbarischen Lauten an, die sie für
mittelalterliches Französisch ausgeben. Auf den Bauernhöfen gibt es Führungen auf Okzitanisch, einer Sprache, die nur noch von den Toten verstanden wird. Der Film Asterix und Obelix, mit Depardieu als Obelix, schlägt alle Einnahmerekorde.
Und die anderen, die weder ins Ausland noch in die Vergangenheit flüchten? Sie resignieren sieht man von den sporadischen und verzweifelten Aufständen der in den Satellitenstädten zusammengepferchten Jugendlichen ab, Kindeskinder der einst Kolonisierten, die alle Hoffnung auf Arbeit und ein lebenswertes Leben längst begraben haben. Die durchschnittlichen Bürger begehren nicht mehr auf. Sie stehen wie die Schafe vor den Postschaltern Langsamkeit ist ein Privileg Gottes und seiner Heerscharen, der Beamten -und beschweren sich nicht. Sie essen kalte Steaks in den Lokalen und beschweren sich nicht, wenn der Bus eine halbe Stunde zu spät kommt. Sie gründen keine neuen Unternehmen, denn sie haben begriffen, dass die
Banken nur den Reichen geben. Sie halten den Mund, wenn sie sehen, wie die immer brutaler werdenden Polizeibeamten ein paar zwölfjährige Schwarze wie Schwerverbrecher an die Wand stellen.
Der Widerstandsgeist der Franzosen ist gebrochen. Sie gehen nur noch zur Verteidigung der Löhne und der 35-Stunden-Woche auf die Straße. Ihr kleiner Besitzstand ist das Letzte, was sie mobilisiert. Da sagen sie noch nein. Der Staat hat den Sieg über seine Untertanen davongetragen. Er hat sie paralysiert und narkotisiert. Alle Gründe, aus denen ich Frankreich als Student liebte,Furchtlosigkeit, Offenheit, kritischer Geist, Diskussionslust, Witz, rebellisches Denken, sind in den 25 Jahren, die ich hier nun lebe, in einen breiten, alles zermahlenden Strom des Konformismus eingemündet.
Das Land verludert. Seine moralische Substanz ist verbraucht. Allein der Fremdenhass verteilt sich gleichmäßig auf alles Fremde, nicht nur auf die Dunkelhäutigen, die hier noch nie etwas zu lachen hatten man hasst demokratisch: erst die Amerikaner, dann die Engländer, die Deutschen kann man nicht ausstehen, die Schweizer nicht leiden, die Belgier sind lächerlich, die Zigeuner ein mieses Pack, und nach Osten, nach
Estland und Lettland hin, franst die Menschheit völlig aus. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Nein und nochmals nein!
Wenn es nur darum ginge, dem kranken Patienten Frankreich die Diagnose zu stellen, wären die Dinge einfach. Aber leider ist das politische Erbe nicht nur eine Last des Bewusstseins und der Traditionen. Da ist noch das Gewicht und die Beharrungskraft der alten Institutionen, die sich nicht einfach wegdenken lassen. Von der mächtigsten war noch gar nicht die Rede: das Amt des französischen Präsidenten, eine Erbschaft des Ancien Régime, die aus ihm eine Art gewählten König mit absoluter Machtvollkommenheit macht. Es ist schwer zu begreifen, aber der Kampf der monarchischen und republikanischen Traditionen ist in Frankreich gleichsam noch nicht entschieden: Der König wurde geköpft, der König kam wieder, der König wurde Präsident. Kein Herrscher, kein Staatsoberhaupt der westlichen Welt hat auch nur annähernd die Macht des französischen Präsidenten. Er steht über dem Gesetz. Er kann belügen, betrügen, seinen Kammerdiener ohrfeigen, seine juristische Immunität ist, Hochverrat ausgeschlossen, absolut. Er ist unabsetzbar. Er kann das Parlament, das, ebenso wie er, aber zu einem anderen Zeitpunkt, direkt vom Volk gewählt wurde, auflösen, wann und wie es ihm gefällt. Er ernennt den Premierminister und entlässt ihn. Er schreibt dem Außenminister und dem Verteidigungsminister vor, was sie zu tun und zu lassen haben, er ist der oberste Befehlshaber der Armee, er ist der Mann, der auf den Knopf der französischen Atombombe drückt. Er ist der absolute Monarch Frankreichs. Er tut, was er will, er muss es nicht begründen. Zuweilen lässt er sich herab und von speichelleckenden Journalisten, den Sternendeutern der Monarchie, interviewen, die beglückt sind, wenn er sie beim Namen nennt.
Wie schön, wenn es den Präsidenten nicht mehr gäbe! Er würde der Republik nicht fehlen. Man wäre nicht, wie im Sommer dieses Jahres, gezwungen, sich tagelang um die Frage zu streiten, ob dem armen bettlägerigen Mann nur eine »kleine Ader« geplatzt ist, ob er »Sehstörungen« hat oder gar einen »leichten Schlaganfall«,
was wir ohnehin nicht erfahren, da die Bulletins, die von seiner engsten Beraterin und Tochter Claude Chirac redigiert werden, bekanntlich lügen und die Ärzte des Militärkrankenhauses dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, dem Präsidenten selbst, verpflichtet sind.
Nichts ist in Frankreich, das ja ein gewähltes Parlament zum Regieren hat, überflüssiger als der Präsident. Aber der Überflüssigste ist leider der Mächtigste. Mit Hilfe seines Geheimdienstes, der Steuerbehörden, die er seinen Gegnern an den Hals schickt, oder einfach mit Hilfe eines Anrufs bei den Zeitungen regiert er das
Land. Um wirklich demokratisch geführt zu werden, müssten die Franzosen den Präsidenten abschaffen. Aber auf dieses Nein wird man noch lange warten. Frankreich, das seinen König köpfte, hängt sehr an ihm: Hat er einen guten Teint, ist er heute schlecht gelaunt, wem dreht er gerade einen Strick?
Das Haus Frankreich wackelt in den Grundfesten, aber es ist ein altes Haus und schwer zu reparieren niemand wagt, an ihm zu rühren. Wenn sich irgendetwas zu bewegen droht, hat man das Gefühl, wie weiland in der UdSSR, das ganze System bricht zusammen. Alle sozialen Gruppen verteidigen verbissen ihre »historischen Privilegien«, die Gewerkschaften, die Parteien, die Staatsverwaltung, die Beamten, die Fluglotsen, die Lastkraftwagenfahrer. Sie sind in einem prekären Gleichgewicht erstarrt.
Aber wenn sich nichts bewegt, verknöchert das Leben, wird brüchig, stirbt ab. Die Bewegungsangst der französischen Gesellschaft ist an einem paranoiden Punkt angelangt, und die Frage ist nicht die nach dem Überleben des »sozialen Systems«, sondern Frankreichs als einem Land, in dem man noch angstfrei atmen kann. Frankreich ist hysterisch, Frankreich ist verbittert, Frankreich ist unglücklich. Was tun? Es gibt für das Land nur eine Chance, wieder Boden unter den Füßen, wieder Energie und Kraft für einen Neuanfang zu finden: Es muss der Wirklichkeit ins Auge sehen. Es muss sein Bewusstsein »entkolonisieren« zuallererst das im Jahre 2005 verabschiedete skandalöse Gesetz vom 23. Februar rückgängig machen, das die Schulen dazu anhält, »die positive Rolle« der Kolonisierung »vor allem Nordafrikas« zu propagieren. Es muss seinen Arabern und Schwarzafrikanern endlich eine reelle Chance geben, in die Politik, die Wirtschaft, das öffentliche Leben, wo sie gar nicht vorkommen, eingelassen zu werden. Es muss seine Jugendlichen nicht mit Schnellkursen, sondern wieder mit einer echten Ausbildung ins Leben schicken, statt sie, wie der martialische Innenminister Sarkozy, mit Polizeiknüppeln erziehen zu
wollen. Es muss begreifen, dass es nicht mehr ein großes Land ist, sondern ein kleines. Es muss sich von seinem illusionären Selbstbildnis verabschieden, das aus der grandiosen Vergangenheit schöpft. Es muss seine fossilen Institutionen und Hierarchien abschaffen. Es muss die Kultur und weite Bereiche des öffentlichen
Lebens entpolitisieren, damit die Fähigen endlich ans Ruder kommen, und sein auf Beziehungen, finstere Machenschaften und Nepotismus aufgebautes soziales System begraben und neu erfinden.
Es muss! Wenn Worte heilen könnten, wäre Frankreich ein kerngesundes Land. Aber ich befürchte, dass alle guten Ratschläge nichts helfen und dass das Haus Frankreich langsam, aber sicher im Treibsand der Geschichte versinkt. Nicht anders war es einst in Rom oder in Athen, in Spanien oder Babylonien. Man hat nicht immer die Möglichkeit, den unaufhaltsamen Verfall eines einstigen Weltreichs, das diesen nicht
wahrhaben will, aus der Nähe zu sehen. Es ist kein schöner Anblick. Alle leiden unter der wachsenden Brutalität der sozialen Beziehungen, der grenzenlosen Indifferenz, der Mitleidslosigkeit, den abweisenden Bürokratengesichtern, jeder ist des anderen Feind, keiner antwortet, keiner hilft, niemand hält es hier noch aus, jeder will nur weg! Aber solange Gulliver sich weigert zu erwachen und sich als der Zwerg zu erkennen, der er geworden ist, werden die Dinge nicht besser, sondern schlimmer. Doch erwachen, das will er um keinen Preis. Nein, nein und nochmals nein!
Der Theaterregisseur und Essayist Benjamin Korn lebt in Paris. Er ist Träger des Brentano-Preises für Literatur der Stadt Heidelberg. Zuletzt inszenierte er »Allô, Céleste« von und mit Dominique Valentin im Pariser Théâtre le Petit Hébertot
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